Anna E. Andersen
Angesichts des vorherrschenden und auf exponentielles Wachstum ausgerichteten neoliberalen Wirtschaftssystems, das sich durch soziale Ungerechtigkeit, ökologisch vernichtende Übernutzung der Natur und folgenschweren Krisen für die Menschheit auszeichnet, besteht die Notwendigkeit einer Ausgestaltung von einem lebbaren Lebensstil in der postfossilen Moderne, der verantwortliche und resiliente Handlungsmuster zugrundeliegen müssen. Dafür ist die Perspektive der zivilgesellschaftlichen Verankerung von Praktiken der Suffizienz und Subsistenz von entscheidender Bedeutung (Polanyi 1978; Paech 2018).
Dabei sollte das Verständnis des Begriffs Suffizienz weit über die Bedeutung von Verzicht oder Askese hinausgehen. In der Nachhaltigkeitsdiskussion wird die Begriffsverwendung primär mit der möglichst geringen und gleichermaßen sparsamen Beanspruchung von materiellen und energetischen Ressourcen in den Zusammenhand gebracht. Postwachstumsökonom Niko Paech versteht darunter eine materielle Entschlackung und Entschleunigung von Lebensstilen, die eine Befreiung vom überflüssigen Ballast bedeutet (Paech 2011: 97). Zum anderen plädiert er für die Verringerung von räumlicher und technischer Distanz zwischen dem Verbrauch und der Produktion durch die Förderung von Regionalökonomien, urbanen Subsistenz-Praktiken sowie der Bereitschaft zur Reaktivierung und Aneignung von nutzbaren, meist handwerklichen Kompetenzen (vgl. ebd.). Im Gegensatz zu weit verbreiteten Theorie des Postkapitalismus, sieht der Ökonom eine Notwendigkeit zur grundlegenden Entkommerzialisierung und Entglobalisierung der Lebensbereiche. Auf diese Weise wird eine ökonomische Unabhängigkeit erreicht, die zur Stabilität und Krisenresistenz beitragen kann. Gerade die weltweit ausgerufene Pandemie von Coronavirus zeigt umso deutlicher, wie anfällig die globalisierten Versorgungsstrukturen sind und welche gravierenden Schwachstellen die transkontinentalen Lieferketten haben. In der internationalen Medienlandschaft tauchen seit Ende März 2020 die ersten Berichte über die Lieferungsengpässe von Nahrungsmitteln in die sogenannten Entwicklungsländer. In den Industrieländern dagegen werden einige Grundnahrungsmittel wie Mehl oder bestimmte Gemüsesorten nur dann knapp, wenn es von Seiten der Bevölkerung zu überhäuften Hamsterkäufen kommt. Die Armen im globalen Sünden leiden an Hunger und sterben an den Folgen der Unterernährung als an der medizinischen Unterversorgung, während die Mehrheit der westlichen Welt sich über die eingeschränkten Bürgerrechte und Reiseverbote beklagen. Dieser Umstand zeigt umso deutlicher, wie die ungleiche Verteilung — verursacht durch soziale Ungerechtigkeit — die Welt spaltet
Heute ist die konventionelle Landwirtschaft mehr denn je von fossilen Ressourcen abhängig. Die Agrarindustrie zeichnet sich durch einen hohen Industrialisierungsgrad, massive Entwaldung und Erschließung neuer Bewirtungsflächen sowie den Anbau von Monokulturen. Diese Praktiken sind weder ökologisch noch ökonomisch vertretbar. Daher ist die schrittweise Hinwendung zu Subsistenz als einer alternativen Form der Versorgungsstrukturen naheliegend. In den Ländern des postsowjetischen Raums wie auch in vielen Teilen Lateinamerikas ist die Tradition der subsistenten Versorgung immer noch lebendig. In Hinblick auf die Nahrungsmittel züchten dort die Menschen essbare Kulturpflanzen an, um ihre Familie mit frischer und gesunder Kost zu versorgen. Der Wille zum Selbstarbeiten ist da, obwohl es dafür unterschiedliche Beweggründe gibt: der eine möchte seine Existenzgrundlage aufbessern, der andere findet reine Freude an der körperlichen Betätigung im Garten oder anderswo, die zur geistiger Entspannung einlädt. Neben der Erweiterung alltäglicher Handlungsmöglichkeiten, verhilft die Subsistenz zu solidarischen, ästhetischen und kulturell-spirituellen Gestaltungsdimensionen der Lebensstile (Baier; Müller 2017: 247). Damit gilt die aufgestellte Behauptung, dass der Wohlstand durch Subsistenz der «Wohlstand aller» ist (Bennholdt-Thomsen 2011: 264). Dabei ist hier wichtig zu betonen, dass der nachhaltigkeitsorientierter Wohlstand von materiellen Optionen zur Selbstverwirklichung entkoppelt ist.
Zur Grundvorlage für eine integrative Praktik der Subsistenz kann die Permakultur-Ethik für nachhaltige und produktive landwirtschaftliche Nutzung im Großformat adoptiert werden. Das Konzept fungiert als Gegenentwurf zu den Produktionsstrukturen industrieller Agrarsysteme und stellt damit eine lebbare Alternative zu globalen Versorgungssystemen für örtliche Gemeinschaften dar (Mollison 1979). Im Vordergrund des Permakultur-Ansatzes steht eine achtsame und nachhaltige Bewirtschaftung von Landflächen in Harmonie mit der natürlichen Umwelt. Die Anbaumethoden verzichten auf Kultivierung von Monokulturen und den Einsatz von künstlich erzeugten Substanzen, die bei der konventionellen Landwirtschaft zu folgenschweren Verunreinigungen des Bodens und Grundwassers führen. Diese Leitprinzipien können zur zukunftsfähigen Basis einer nachhaltigen Entwicklung von Strukturen urbaner Lebensräume übertragen werden.
Es herrscht ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass der Paradigmenwechsel aus den Gewohnheiten sozialer Praktiken und routinierter Abläufe hervorgeht, die unter geltenden wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen noch schwer zu verändern sind (John 2013). Es wäre wünschenswert, wenn vor dem Hintergrund städtischer Kulissen aus Beton die Garten-Idylle oder eine andere handwerkliche bzw. körperliche Betätigung einen Impuls zum ökologischen Wandel aussenden würde, um den Prozess der Neubuchstabierung des Nachhaltigkeitsgedankens in den Gang zu setzen (Schneidewind 2013: 121; Borgstedt 2011).
Das Narrativ des gegenwärtigen Wohlstandsverständnisses mit seinen komplementären Konsummustern erlaubt noch keine suffizienz- und subsistenzorientierten Praktiken und systematisierten Verhaltensweisen im großen Maßstab an den Tag zu legen. Vielleicht wird die voranschreitende Coronavirus-Krise eine längst überfällige Hinwendung zum soziokulturellen und ökologischen Wandel setzen.
Literaturverzeichnis
Bennholdt-Thomsen, Vernonika: Ökonomie des Gebens. Wohlstand durch Subsistenz, in: Christa Müller (Hrsg.): Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. München 2011. S. 252-265.
John, René: Alltägliche Nachhaltigkeit. Zur Innovativität von Praktiken, in: Jana Rückert-John (Hrsg.): Soziale Innovationen und Nachhaltigkeit. Wiesbaden 2013. S. 103-132.
Mollison, Bill: Permaculture Two: Practical Design for Town and Country in Permanent Agriculture. Norwich 1979.
Paech, Niko: Der «grüne» Fortschritt ist Gescheitert, in: Maja Göpel, Heike Leitschuh, Achim Brunnengräber, Pierre Ibisch et al.: «Leitkultur» Ökologie? Was War, Was Ist, Was Kommt? Jahrbuch Ökologie 2017/18. Stuttgart 2018. S. 207-220.
Paech, Niko: Nach dem Wachstumsrausch: Eine Zeitökonomische Theorie der Suffizienz, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 47/166-167. Oldenburg 2010. S. 33-40.
Polanyi, Karl: The Great Transformation: Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt am Main 1973.